Mein Coming-out: Ich bin süchtig

Nie hätte ich gedacht, es könnte mich selbst treffen. Schon gar nicht mit dieser Wucht. Wie sehr habe ich andere Jung-Väter in der Vergangenheit belächelt, die unzählige Fotos von ihren Kindern herzeigten, ohne dass sie sich auch nur ansatzweise unterscheiden. Die über jede neue Bewegung oder Mimik ihres Nachwuchs stundenlang erzählen können. Ich bin seit ein paar Tagen Papa. Und ich bin jetzt selbst so. Daher hier und jetzt mein persönliches Coming-out: Ja, ich bin süchtig. Ja, ich, der selbsternannte stahlharte Mann, bin weich gekocht. Süchtig danach, meinen kleinen Sohn im Arm zu halten und ihn zu umsorgen. Und ich schmelze dahin, wenn mein kleiner Bub auch nur kurz andeutet, mich anzusehen.

Zeitdiebe

Plötzlich ist die Welt voller Zeitdieben. Das früher so wichtige Telefonat oder die unbedingt noch zu schreibende E-Mail halten mich nur noch davon ab, früher im Spital bei meiner Familie zu sein. Bei Autofahrten orte ich überall einen Stau, obwohl nur ein Verkehrsteilnehmer vor mir fährt. Den Weg vom Parkplatz ins Krankenhaus lege ich sowieso nur noch im Laufschritt zurück. Alles dauert einfach zu lange, alles hält mich einfach nur davon ab, bei meiner Familie zu sein.

Persönliche Bedürfnisse

Die eigenen Bedürfnisse spielen plötzlich auch eine untergeordnete Rolle. Hungergefühl macht sich nur breit, wenn es mich nicht von der gemeinsamen Zeit mit Samuel abhält. Einzig meine Tagesration Kaffee bleibt bestehen. Beweglich wie in jungen Jahren kann ich verharrend – in verkrampfter Haltung – sitzen, nur damit ich den Schlaf meines Sohnes auf meinen Armen nicht störe.

Fotos

Natürlich gibt es auf meinem Handy in der Galerie bereits einen Baby-Ordner. Nach fünf Tagen waren es bereits mehr als hundert Bilder. Tendenz steigend. Abends wird so der gemeinsame Tag Revue passiert. Und morgens wiederhole ich den Vorgang, als ob sich dazwischen irgendetwas verändert hätte. Egal ob im Büro oder im Freundeskreis, zumindest ein „neues“ Foto muss gezeigt werden.

Gemeinsame Zeit

Aber nichts übertrifft die gemeinsame Zeit mit Samuel. Stundenlang sitze ich mit meinem schlafenden Sohn neben dem Spitalsbett meiner lieben Ehefrau, starre ihn an und fühle einfach dieses riesengroße Glück. Bewegt er sich kurz, verzieht auch nur einen Gesichtsmuskel, lacht mein Herz. Die Zeit vergeht dabei wie im Flug. Bis wieder abends ist und ich das Spital verlassen muss. Dann kommen wieder die Fotos ins Spiel.

Hinterlasse einen Kommentar.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*